10-27-1938

Firmenbriefkopf Gross-Gerau, den 27. Oktober 1938

Lieber Martin!

Heute soll ich zuerst an Dich schreiben, Vater ist nach Darmstadt; er war täglich diese Woche weg. Dienstag in Mainz, gestern in Darmst. und Frankfurt, denn es giebt immer so manches zu erledigen; darüber soll Vater berichten. Dass die Nr.(Nummer) so hoch ist, kommt daher, da Vater noch keine Idee hegte wegzugehen. Er hängt sehr an seinem Heim; es giebt vielleicht doch später ein Lösung. Du weisst, wenn Vater drüben ist, hängt er von Dir ab und das möchte er, so lange es geht, hinausschieben.

Ich habe an Goldatouer geschrieben, sie will die Verantwortung nicht auf sich nehmen. Gina´s Adresse ist rue de la Vanne 9 Br(üssel), ob ich nach Belgien kann, ist eine Frage; obwohl man mir schrieb, wenn ich keine Bürgschaft bekomme, soll (ich) dann zu meinen Geschwistern und Kindern.

Glaube mir , l. Martin, dass ich furchtbar an hier hänge, denn seit 13 Jahren ist das mein Heim, ich habe für Euch und Vater gesorgt, was in meiner Kraft stand; ich soll Euch dann verlassen? -das ist für mich gar nicht auszudenken, denn ich hänge an allem, was Euch gehört; ich werde jetzt 64 Jahre alt, glaube mir, die jungen Leute leisten das nicht, was ich noch leiste; ich will mich nicht beschönigen, aber es ist Tatsache: Hede kann nie einen Haushalt führen, dies muss ich Dir leider sagen, aber was soll ich weiter erzählen? - kommt Zeit, dann kommt Rat, auch für mich, wenn ich nicht mehr bei Euch sein kann. Hede ist noch in Frankfurt ist mal eine Ablenkung; am Sonntag waren die Frankfurter hier, Onkel Salmon sieht gut aus, waren zum Kaffee und Nachtessen da. Ruth war auch dabei, ist eine Dame, fühlt sich.

Hast Du gehört, dass Hertha Kahn in N.Y. verheiratet (geheiratet) hat, mit einem Arier, er ist ein Polnis(c)h(er) Amerikaner und ist im Krankenhaus Angestellter.

Bei uns vergeht ein Tag wie der andere, nur die Abende mit Rommee; Gesellschaft fehlt überall. Wir hoffen, dass die Brettener bald kommen. Sobald sich Tante besser fühlt. Gestern schrieb sie, sollst doch mal schreiben.

Wir freuen uns immer, wenn dein Brief kommt; das ist etwas Sonnenschein, denn die Sonne fehlt eben. Für heute die herzl. Grüsse von Johann Kossmann

Hilde Guthmann hat nach deiner neuen Adresse gefragt, siehst Du keine Gerauer mehr?

Lieber Martin, komme soeben v. D.(armstadt) zurück. Gestern war bei Simon (Friedrichstr) ween einer Sicherstellung meines Vermögens für die Devisenstelle. Meine sämtlichen Auss(en)stände, Wertpapiere , Guthaben bei der Bank, Haus etc. sind sichergestellt. Alle Geldeingänge gehen auf Sperrkonto bei der Darmstädter Bank. und was monatl. gebraucht, bekommen von der Devisenstelle freigestellt; aber dies ist nicht nur bei mir, sondern gang und gebe!

Soeben sagt Fr. Kossmann, dass ihre Tochter voraussichtlich Ende des Jahres nach hierher kommt, wenn du ihr was zu schreiben hast. Am Dienstag schickte dir von Mainz eine Süs(s)igkeit zum Geburtstag. Wenn du Strümpfe Cravatten oder sonst Kleinigkeiten gebrauchst, kann dir´s als Muster ohne Wert Schicken.

Schreibe, wenn du was brauchst Herzl. Kuss v. d. Vater.

Dear Martin,

Today it is my turn to write to you first; father has gone to Darmstadt; this week every day he has been away. Tuesday in Mainz, yesterday in Darmstadt and Frankfurt as there is so much to take care of; father will tell you about it. That our numbers are so high is due to the fact that father did not think of leaving until now. He is very much attached to his home. But maybe there is a solution later. You know when father is finally over there, he would be depending on you and this he would like to postpone as long as possible.

I wrote to Goldatouer, she does not want to carry the responsibility. Gina’s address is rue de la Vanne 9 Br(üssel); whether I can go to Belgium is still open; They wrote me though if I cannot get an affidavit, I should go to my siblings and children. Believe me, dear Martin, I am terribly attached to this place; for 13 years this has been my home, as I took care of you and your father, as much as I could. How could I leave you then? I simply cannot imagine that, as I am attached to everything that is about you; I will turn 64 now, believe me, even young people cannot keep up with me; I do not want to brag, but it is a fact: Hede would never be able to lead a household, I must tell you, I’m afraid, this; but what else can I tell you? Time will solve these things, for me as well, even if I cannot be with you. Sunday the people from Frankfurt visited here. Uncle Salmon looks good, they had coffee and supper with us. Ruth was also here, such a lady. Have you heard? Hertha Kahn married an Aryan in N.Y.; he is a Polish-American, works in a hospital.

Here one day is like the next one; evenings we play rummy. Only the company is missing. We hope the people from Bretten will soon come. As soon as Aunt feels better. Yesterday she wrote to us, you should write to her. We are always so happy when you letter arrives: a little sunshine that we’re very much missing here. Warm greetings from Johanna Kossmann.

Hilde Guthmann asked for your new address: you do not keep in touch with people from Gerau?

Dear Martin,

I have just arrived from Darmstadt. Yesterday I saw Simon (Friedrichstr) for handing over my assets for the foreign exchange office. They will now hold all my debts, securities, bank balances, house, etc.. All deposits go on a blocked account at the Darmstädter Bank and I get a monthly allowance from the exchange office; but this affects not only me, but all of us!

Mrs Kossmann is just telling me that her daughter will come here at the end of the year, in case you want to write to her. Tuesday I’ll send you some sweets from Mainz for your birthday. If you need socks or ties or other small stuff I can send you some as sample without value. Write to us if you need something. Warm kisses from your Father.